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«Der Brexit hat einen riesen Einfluss auf die Schweiz»

Der Brexit hat die Frage nach der Attraktivität einer EU-Mitgliedschaft und die Angst vor Disintegrationsbewegungen in die Top-Prioritäten der EU katapultiert. Er beeinflusst auch das EU-Rahmenabkommen, sagt Prof. Dr. Stefanie Walter, Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie an der Universität Zürich.

Läutet der Brexit den Anfang vom Ende der EU ein?

Nach dem Brexit-Votum im Juni 2016 gab es die weitverbreitete Sorge, dass ein EU-Austritt in anderen Ländern Schule machen könnte. Seitdem stellen wir jedoch fest, dass der Appetit für einen Exit nicht gestiegen, sondern eher etwas gefallen ist. Der Brexit zeigt ja, wie schwierig es ist, aus dem europäischen System auszusteigen, insbesondere wenn man nur noch eine mittelstarke Macht in einem sich rasant verändernden Weltsystem ist. Da die Verhandlungsmacht des austretenden Staates sinkt, kann er beispielsweise nicht mehr drauf bauen, dass andere Staaten bei den Verhandlungen um ein Handelsabkommen grosse Zugeständnisse machen.

Der Austritt aus der EU gestaltet sich also schwierig…

Der Austritt aus der EU ist für das Vereinigte Königreich so schwierig, weil die Verbindungen über die Jahre so eng geworden sind. Das stellt das Vereinigte Königreich vor die Wahl, entweder weiterhin eng an die EU gebunden zu bleiben, dann aber auch weiterhin EU-Recht zu befolgen, oder sich wirklich von der EU zu lösen, dann aber auch auf die enge Kooperation zu verzichten. Dieser Trade-Off stellt für beide Seiten ein Riesenproblem dar. Das Verhältnis wird auf absehbare Zeit problematisch bleiben. Die Tatsache, dass ein EU-Austritt so schwierig ist, heizt auch Bestrebungen an, die EU von innen heraus zu verändern. Ungarn und Italien verfolgen beispielsweise neu eine viel nationalistischere Politik und möchten die EU in diesem Sinn reformieren und wieder mehr Entscheidungsgewalt an die Nationalstaaten zurückgeben. Bis zu einem gewissen Grad ist das nicht problematisch. Das Problem ist, Nationalismus verträgt sich in der Praxis nicht so gut mit internationaler Kooperation.

Ist eine Rückkehr zu stärker nationalen Regulierungen eine Lösung?

Die EU-Kommission von Jean-Claude Juncker hatte sich zum Ziel gesetzt, weniger einzugreifen und hat tatsächlich deutlich weniger auf europäischer Ebene reguliert, wie es früher andere Kommissionen gemacht haben. Das Bewusstsein, dass lokalen, nationalen Bedürfnissen Rechnung getragen werden muss, ist bereits da. Nichtdestotrotz lassen sich gewisse Probleme tatsächlich nur durch internationale Kooperation lösen. Und die Bereiche, in denen die EU am stärksten versagt, sind die Bereiche in denen sie wenige Kompetenzen hat.

An welche Bereiche denken Sie?

Zum Beispiel an die Migrationspolitik. Hier gibt es zwar mit dem Dublin-Regime einen gewissen Rahmen, im Endeffekt betreibt aber jeder Staat seine eigene Asylpolitik. Man hat eine Situation geschaffen, in der man auf die Kooperation der anderen Staaten angewiesen ist, jeder Staat aber andere Vorstellungen davon hat, wie diese Kooperation aussehen soll. Und die EU hat nicht die Kompetenz, die Staaten zu einem einheitlichen Kurs zu bewegen. Das macht eine nachhaltige Lösung der Probleme so schwierig.

Wieso ist gerade das Thema Migration so sensibel?

Wenn es um Migration geht, geht es immer auch um Identität. Es kommen Menschen, die anders leben und eine andere Kultur mitbringen. Für viele Menschen stehen daher nicht die wirtschaftlichen Vorteile der Migration im Vordergrund, sondern die Angst, einen Teil der eigenen Identität zu verlieren.

Auch in der Schweiz ist die Personenfreizügigkeit mit gewissen Ängsten verbunden…

Die Personenfreizügigkeit ist in weiten Teilen der EU sehr beliebt und eine Einschränkung wird von vielen Bürgern abgelehnt. In der Schweiz wird die Debatte dagegen aktuell von der Sorge dominiert, dass ausländische Arbeitskräfte Lohndruck ausüben könnten. Diese Angst sehen wir beispielsweise in der Debatte rund um die Reduktion der Voranmeldepflicht für entsendete Arbeitnehmer. Dabei ist zu beachten, dass die 8-Tage-Regelung Ende der 1990er Jahre verhandelt wurde – zu Zeiten, in denen man sich noch überhaupt nicht vorstellen konnte, wie sehr administrative Vorgänge einmal durch das Internet vereinfacht und beschleunigt werden würden. Nur weil man die Voranmeldepflicht von 8 auf 4 Tage verringert, heisst das also nicht automatisch, dass die Kontrollen schwächer sind. Zudem entspricht die Idee der neuen Entsenderichtlinie der EU den Schweizer Vorstellungen des Lohnschutzes, auch wenn die konkrete Umsetzung natürlich noch nicht ganz klar ist. Man muss also keine Angst davor haben, dass mit der neuen Entsenderichtlinie der Lohnschutz abgeschafft wird.

Welchen Einfluss hat der Brexit auf die Schweizer Debatte rund um das EU-Rahmenabkommen?

Der Brexit hat einen riesen Einfluss auf die Schweiz. Er hat die ganze Thematik, wie attraktiv eine EU-Mitgliedschaft ist und die Angst vor Disintegrationsbewegungen ganz nach vorne in die Top-Prioritäten der EU katapultiert. Viele EU-Bürger beschäftigen sich gar nicht mit dem Brexit, aber gerade diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, unterstützen die harten Verhandlungen der EU. Umfragen zeigen zum Beispiel, dass die Bürger in den verbleibenden EU-Staaten gerade bei den Themen finanzielle Beiträge und der Personenfreizügigkeit keine Ausnahmen für das Vereinigte Königreich wünschen. Für die EU wird es also immer wichtiger, zu demonstrieren, dass die EU klare Vorteile bringt und dass es für Nichtmitglieder keine Rosinenpickerei gibt. Und das wird für die Schweiz ein Riesenproblem.

Zur Person

Prof. Dr. Stefanie Walter ist ordentliche Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. 

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